In der Interaktion mit Teilnehmern aus der Profession Pflege fällt mir bei meinen Vorträgen und Workshops immer wieder auf, wie stark der Wunsch nach ethischer Reflexion und Aufarbeitung von moralischem Stress bei Pflegekräften ist. Wenngleich moralischer Stress als solcher nicht benannt oder als Phänomen wahrgenommen wird.
Die Arbeit, tagtäglich am Menschen in schwierigen Situationen Entscheidungen zu tragen, die man nicht selbst mit gefällt hat, Verlust, Trauer, Hilflosigkeit, Überforderung, etc. – dies alles macht etwas mit uns.
Wir sind mehr oder weniger alle davon betroffen. Wenn beispielsweise aufgrund von Personalmangel ein Patient, der im Sterben liegt, nicht begleitet werden kann und lediglich für die pflegerische Versorgung Zeit zur Verfügung steht – dann macht das etwas mit uns. Wenn Angehörige das Gespräch suchen, jedoch nicht mehr als ein paar Sätze zwischen Tür und Angel möglich sind – dann macht das etwas mit uns. Wenn zum Beispiel die Entscheidung einer Therapiebegrenzung getroffen wird und wir nicht involviert waren, obwohl wir die Patientin schon lange versorgen – dann macht das etwas mit uns. Aber was bedeutet das?
Begriff und Ursachen
Pflegende nehmen ihre Verantwortung in ihrem Beruf in der Regel sehr ernst. Wird mit ethischen Problemen oder Konflikten nicht angemessen umgegangen, entsteht Frustration. Moralischer Stress ist eine psychologische Reaktion, die entsteht, wenn institutionelle Zwänge oder Konflikte mit Kolleginnen, Kollegen und anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die vermeintlich moralisch korrekte Handlung scheitern lassen. Das bedeutet im Klartext, dass wir um unsere ethischen und moralischen Vorstellungen wissen. Sie sind klar für uns, in unserem Beruf. Werden wir aufgrund von Personalmangel, Hierarchien oder Konflikten im Team daran gehindert, unsere moralischen Überzeugungen umzusetzen, sind wir mindestens unzufrieden. In der Konsequenz kann moralischer Stress entstehen, der wiederum für Erkrankungen, wie z. B. Burnout, verantwortlich sein kann.
Selbstbestimmung spielt bei der Entstehung von moralischem Stress eine große Rolle. Dies hängt wiederum mit Arbeitsorganisation und Transparenz zusammen. Gute Arbeitsorganisation und Absprachen mit Leitung und Team fördern die Selbstbestimmung im Arbeitsalltag.
Ebenso verhält es sich mit der Kommunikation zwischen Pflegenden, Ärzten, Angehörigen und Patienten, z. B. bei Entscheidungen am Lebensende. Uneinigkeiten, fehlende Absprachen, undefinierte gemeinsame Ziele oder auch in Entscheidungen und Gespräche diesbezüglich nicht einbezogen zu werden, fördern die Entstehung von Unmut, Frustration und damit von moralischem Stress.
Aufarbeitung
Das Fehlen von Selbstbestimmung, transparenter und interdisziplinärer Kommunikation, sowie einer gut strukturierten Arbeitsorganisation bieten Raum für das Keimen von moralischem Stress. Hilflosigkeit, Frustration, Sorge, Angst, Schuld, Ohnmacht können Gefühle, ja, Vorboten sein, die wiederum in Alpträumen, mangelndem Selbstwertgefühl oder gar Depressionen und Burnout ausarten können. In der alltäglichen Arbeit geraten Pflegende manchmal in Situationen, in denen sie sich zwischen moralischen Verantwortlichkeiten hin und her gerissen fühlen. Dies kann bei Pflegekräften zur Folge haben, dass sie entweder die Verantwortung gänzlich abgeben, sich ihrer Verantwortung entziehen, sich gar klein und unbedeutend machen, oder sich in eine hohe Arbeitsbelastung begeben, indem Pflege eben nur noch auf den mechanischen Akt reduziert wird, als ob die hohe Arbeitslast der Betäubung von Emotionen dient, die den moralischen Stress so belastend machen. Leiden Pflegende permanent unter dem Druck, dass ihre pflegerelevanten Entscheidungen von äußeren Aspekten verstärkt beeinträchtigt sind und dadurch alle ihre verfügbaren Handlungsmöglichkeiten ethisch nicht mehr für sie vertretbar sind, kann dies vermehrt zu moralischem Stress bis hin zum Burnout führen.
Es geht also nun darum, die Frage zu beantworten, was geändert werden muss. Worum geht es hierbei eigentlich? Geht es darum, Pflegepersonal moralisch belastbarer zu machen? In gewisser Weise schon. Allerdings bezieht sich dies nicht auf die einzelnen Personen und das, was jeder einzelne tun müsste, sondern es betrifft vielmehr das System, in dem sie arbeiten und von dem sie fester Bestandteil sind. Pflegende brauchen moralische Stärkung, um ihre pflegerelevante Position auch einnehmen und vertreten zu können, als Fürsprecher für Patienten ernst- und wahrgenommen zu werden. Am Ende der Maßnahmenkette sollte eine sogenannte moralische Widerstandskraft entstehen, die es Pflegekräften ermöglicht, moralisch belastende Stresssituationen im Alltag konstruktiv begegnen zu können. Diese Strukturen müssen sich zunächst und vor allem in den Führungsebenen manifestieren. Denn der Rückhalt von oben und den direkten Vorgesetzten ist jederzeit obligatorisch.
Aus Erfahrung kann ich sagen, dass sich häufig eher negativer Bewältigungsstrategien bedient wird, wie z. B. Distanzierung und Arbeit nach Plan. Gut funktionierende Strategien für eine reflektierte Problemlösung, derer sich Pflegekräfte bedienen, sind im besten Fall der Austausch mit Kolleginnen und Kollegen in einem gut funktionierenden Team und offene Teamberatungen. Dies sind schon erste Schritte. Des Weiteren sind natürlich Supervision, Coaching und ethische Fallgespräche im interdisziplinären Team gute Möglichkeiten zur positiven Bewältigung und dem Aufbau von moralischer Widerstandskraft.
Abschließende Gedanken
Mittel- bis langfristig ist es notwendig, dem Phänomen „moralischer Stress“ auf professioneller Ebene Aufmerksamkeit zu schenken und die Verantwortung dafür zu übernehmen. Dies würde bedeuten, dass Pflegekräfte konsequent in Prozessstrukturen involviert werden, sowie deren Verantwortlichkeiten hervorzuheben. Dadurch wird Transparenz geschaffen.
Die Verantwortung wird von Pflegekräften in jedem Fall getragen. Von der Führungsebene getragen, müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden, in denen sich die pflegerische Selbstwirksamkeit erhöht.
Natürlich müssen solche Themen und Gedanken verstärkt in Fort- und Weiterbildungen fließen und zwar von der Ausbildung zur Pflegedienstleitung bis zur Pflegeassistentin. Psychische Belastbarkeit sollte von Anfang an Bestandteil pflegerischer Aus-, Fort- und Weiterbildungen sein.
Selbstfürsorge, aber auch Stabilität und Flexibilität, um für pflegerische Selbstwirksamkeit einzustehen, sollten stärker im Selbstbild des Pflegeberufs manifestiert sein. Dies bedeutet eine hohe Bereitschaft, sich für Veränderungsprozesse zu engagieren und diese mit anzustoßen, sowie das Zugeständnis von moralischer Autonomie in den pflegerischen Tätigkeiten.
Für die Zukunft der Pflege ist es wichtig, nach Wegen zu suchen, um moralischem Stress entgegenzuwirken, denn die nachhaltigen Auswirkungen machen sich längst massiv bemerkbar.
Literatur:
Riedel, A., Linde, A. (2018). Ethische Reflexion in der Pflege. Konzepte – Werte – Phänomene. Berlin: Springer Verlag
Jenull-Schiefer, B., Mayr, M. & Mayring, P. (2006). Hinter jeder Tür der lauernde Tod. Institutionalisiertes Sterben. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie. 39, S. 308-314.
Sterr, R. (2017). Angehörigenarbeit in der neuropalliativen Pflege. Eine professionelle Perspektive. (Masterarbeit)
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